Werke

Die Drachenprinzessin

Schicksalsschwestern

»Wir mögen weder vom selben Vater abstammen noch hat uns dieselbe Mutter geboren, doch wir sind Schwestern, du und ich«, sagte sie. »Schicksalsschwestern, denn Morla hat uns beiden Unrecht angetan.«

Da stand Emma nun. Herausgerissen aus der einen Welt, die ihr immer fremd gewesen war, und hineingeworfen in eine andere. Zum ersten Mal verspürt sie zwar ein Gefühl von Heimat, und dennoch begegnet Emma hier so viel Fremdem.

Sie versucht, ihren Platz in dieser anderen Welt zu finden und ihr Schicksal zu erfüllen. Doch muss sie bald schon feststellen, dass diese Welt gar nicht so anders ist, als die, aus der sie kam. Denn man hat ihr Dinge verschwiegen und auch hier wird sie von manchen nur als Mittel zum Zweck betrachtet und benutzt. Doch sie findet auch Verbündete auf ihrem Weg und am Ende bleibt die Frage:

Ergibt sich Emma in ihr vorherbestimmtes Schicksal oder nimmt sie es selbst in die Hand?

Leseprobe

Auszug aus dem Kapitel: Das Erwachen

»Gar nichts muss ich!« Scharf klangen die Worte der Frau, die bis vor kurzem noch Meridianas Freundin gewesen war und von der so viel abhing. »Und ich heiße Emma, nicht Aemiliana!« Sie drehte sich um und rannte aus dem Raum, die Stufen hinunter. Sie bemerkte nichts von der Idylle und Zauberhaftigkeit ihrer Umgebung. Nahm nicht wahr, dass sie sich im Innern eines riesigen Baumes den Weg nach unten bahnte und auch nicht, wie friedlich und ruhig alles um sie herum war. Denn sie war alles andere als das. Sie war aufgewühlt, durcheinander und konnte nicht begreifen, was hier gerade passierte. Mit ihr passierte. Und das machte ihr Angst. Eine Angst, die ihre eisigen Klauen in sie schlug und sie dazu brachte davonzurennen.

Ja, davonrennen, dachte sie. Das kannst du wirklich gut.

Doch sie rannte weiter, von ihrer Furcht getrieben, bis sie schließlich nicht mehr konnte. Erschöpft hielt sie an und stützte sich an einem Baum ab. Sie rang nach Atem, als sie das Plätschern von Wasser vernahm. Sie lauschte dem Geräusch und nahm noch etwas anderes wahr. Stimmen, die sie flüsternd zu rufen schienen. Sie lauschte weiter und merkte kaum, dass sie sich bewegte. Sie ging vorwärts und setzte einen Fuß vor den anderen, bis sie schließlich eine kleine Lichtung erreichte. Magisch angezogen, steuerte sie darauf zu und blieb vor einer Felsformation stehen. In einem natürlich entstandenen Becken sammelte sich das Wasser einer Quelle, die weiter oben im Fels entsprang. Oben auf dem Felsen stand eine riesige Esche, deren Äste sich über das ganze Land auszubreiten schienen. Sie kannte diesen Ort, hatte ihn schon einmal gesehen. In einem Traum. Die Wasseroberfläche hatte ihr in einem Bild gezeigt, wie sie durch ihren Spiegel in diese Welt ging. Genau so, wie sie es am Ende auch getan hatte.

Aemiliana schloss die Augen und lauschte den Geräuschen um sich herum. Dem Plätschern der Quelle und dem Flüstern im Wind. Doch jetzt war da noch etwas anderes. Ein leises, monotones Surren. Sie öffnete ihre Augen wieder und versuchte das Geräusch zu lokalisieren. Sie blickte am Felsen hinauf zu der riesigen Esche und sah dort drei Frauen in langen, dunklen Kapuzenumhängen. Die Frau links hielt eine Waagschale, die sich ungleich neigte. Die Frau auf der rechten Seite saß an einem Spinnrad, mit dem sie weiße Fäden spann, die wie Nebel in alle Winde verstreut wurden. Von ihr kam das leise Surren, das Aemiliana gehört hatte. Doch die Frau in der Mitte war es, die sie in ihren Bann zog. Sie trug einen mit schwachroten Zeichen verzierten Umhang, dessen Kapuze sie tief ins Gesicht gezogen hatte. Ihre linke Hand hielt sie mit der Innenfläche nach oben. Darüber schwebten in einem Halbkreis sieben kleine ovale Steine. Nur schwach konnte Aemiliana erkennen, dass auf ihnen etwas abgebildet war. Abwechselnd traten alle sieben Steine in die Mitte des Halbkreises, einer nach dem anderen. Parallel dazu zeichneten sich auf dem Umhang der Frau leuchtende Zeichen in feurigem Rot ab. Zu jedem Zeichen sprach sie ein Wort. Immer nur eines, aber alle hörten sich für Aemiliana seltsam an.

Ansuz!
Kenaz!
Hagalaz!
Eihwaz!
Perthro!
Algiz!
Tiwaz!

»Wir sind die Nornen, auch Schicksalsschwestern genannt«, sprach die Frau Aemiliana nun direkt an. »Das Schicksal, das deine Zukunft bestimmt, wurde bereits vor langer Zeit von meiner Schwester Urd gesponnen. Meine Schwester Skuld wägt deine bisherigen Taten und deine Schuld ab. Mein Name ist Verdandi. Ich sehe mit Hilfe der Runen das, was ist, und das, was sein kann.«
Aemiliana hörte wie gebannt auf ihre Worte und rührte sich nicht. »Ansuz steht für den Verstand und die Weisheit«, fuhr Verdandi fort. »Kenaz steht für das Licht, das dich aus dem Dunkel führt und deinen Weg beleuchten wird. Hagalaz steht für die Verbindung zwischen Gut und Böse. Eihwaz steht in Verbindung mit Yggdrasil, dem Weltenbaum, den du hinter uns siehst, und bildet die direkte Verbindung zwischen Leben und Tod. Perthro verknüpft die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft miteinander. Algiz wird dir den Schutz durch höhere Wesen gewähren. Tiwaz steht für Selbstaufopferung und Kampfbereitschaft, um ein höheres Ziel zu erreichen. Die Runen weisen dir den Weg, doch gehen musst du ihn selbst! Dabei wirst du Hilfe brauchen, aber auch Freunde, sonst wirst du scheitern.«
Nebel wallte auf und hüllte Yggdrasil und die Schicksalsschwestern ein. Als der Nebel sich legte, waren sie verschwunden. Nur der Baum, die Quelle und Aemiliana blieben zurück.

Aemiliana hörte hinter sich ein Rascheln und seufzte resigniert. »Was willst du hier?«, fragte sie, ohne den Blick nach hinten zu wenden. »Verschwinde!« Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer hinter ihr stand. Sie fühlte es und war daher nicht überrascht oder gar erschrocken, als sie sich schließlich doch umdrehte und in große, warme, braune Augen sah. Der Drache!
Dein Drache! Dein Freund!